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Der Hunger der Großstadt

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​In der Großstadt brummt das Leben. Millionen von Menschen leben und arbeiten hier. Und sie essen. Doch woher kommen die vielen Tonnen Lebensmittel, die täglich verbraucht werden? Meist werden Milch, Brot oder Gemüse hunderte Autobahnkilometer von Nord nach Süd und von Ost nach West gekarrt. Aber muss das wirklich sein? Der Stadtplaner und Agrarwissenschaftler Ingo Zasada hat untersucht, ob die Metropolregionen Europas ihre Einwohner stärker regional ernähren könnten.​            

 

Es war einmal eine Erdbeere. Auf einem Erdbeerbeet in Polen reifte sie zu einer süßen Frucht heran. Eines Morgens wurde sie geerntet, in eine Kiste gepackt und mit vielen anderen roten Erdbeeren in einen LKW verladen. Die Reise war lang – 800 Kilometer legte die Frucht zurück, bevor sie in Aachen abgeladen und hier zu Fruchtmus verarbeitet wurde. Doch damit hatte die Reise noch kein Ende. Die zerquetschte Beere wurde abgefüllt, wieder verladen und reiste weitere 450 Kilometer nach Stuttgart. Hier landete das Mus in Gläsern. Nach einer letzten Etappe von knapp 700 Kilometern kam die Erdbeere als Joghurt im Supermarktregal schließlich in Hamburg an. Transportweg in Summe: beinahe 1950 Kilometer. 

Egal ob Erdbeere, Schweinesteak oder Apfelsaft – unsere Lebensmittel stammen selten vom nächstgelegenen Bauernhof. »Wir haben ein globalisiertes Nahrungsversorgungssystem«, sagt Ingo Zasada vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V. »Nur ein Bruchteil der Nahrungsmittel, die wir konsumieren, stammt aus der Region, in der wir leben.« Dabei verbraucht der Transport unserer Nahrungsmittel über derart weite Entfernungen große Mengen an natürlichen Ressourcen und kurbelt den Klimawandel an. Zugleich sind Verbraucherinnen und Verbraucher zunehmend abhängig von globalen Märkten. 

Es gibt also gute Gründe dafür, Nahrungsmittel dort zu produzieren, wo sie auch verbraucht werden. Doch ist dies auch möglich? Können sich Menschen in Großstädten stärker von dem ernähren, was in ihrer Umgebung angebaut und produziert wird? Genau das wollte Zasada herausfinden und untersuchte in dem von der EU geförderten Projekt »FOODMETRES« gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern aus Großbritannien, Italien und den Niederlanden vier verschiedene Metropolregionen in Europa. Wie viel Agrarfläche wird benötigt, um Berlin, Mailand, Rotterdam oder London mit Nahrung zu versorgen? Jetzt und im Jahr 2050, wenn in Europas Großstädten noch mehr Menschen leben werden?

 

Jeder Geschmack hat seinen Preis

​Um diese Ausgangsfragen zu beantworten, untersuchte der Wissenschaftler zunächst die Ernährungsgewohnheiten in den Städten. Dafür wälzte er nationale Statistiken über den Verbrauch von Milch, Fleisch und Gemüse und ermittelte die Fläche, die jede Person zur Deckung ihres Bedarfs an Nahrungsmitteln benötigt. Daten über die jeweilige Agrarproduktion, deren Ertrag von Klima, Boden und anderen Umweltfaktoren abhängig ist, flossen in die Berechnungen ein, ebenso Flächenanteile für Lebensmittel, die nicht in Europa produziert werden können – etwa Tee oder Schokolade. 

Das Ergebnis: In den untersuchten Städten isst die Bevölkerung im Durchschnitt etwa 1000 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf und Jahr. In Berlin werden für die Nahrungsmittelproduktion 2052 Quadratmeter Land benötigt, in London sind es 1862, in Mailand 2093 und in Rotterdam 1718. Der Grund für die Schwankungen sind die unterschiedlichen Essgewohnheiten in den europäischen Metropolen. Zasada nahm nun die Umgebung der Städte genauer unter die Lupe und ermittelte, wie viel Agrarfläche dort tatsächlich auch genutzt werden kann. Die Zahlen zeigen, dass besonders die Berlinerinnen und Berliner keine Probleme haben dürften, ihren Nahrungsbedarf mit regionalen Produkten zu decken. Das Umland ist dünn besiedelt und stark landwirtschaftlich geprägt. In einem Radius von etwa 110 Kilometern befinden sich 14600 Quadratkilometer Ackerund Grünland. Die deutsche Hauptstadt benötigt davon nur etwa 7300, um die Versorgung komplett durch regionale Erzeugnisse abzudecken. 

Doch damit ist Berlin die große Ausnahme. In allen anderen untersuchten Städten reicht die landwirtschaftlich verfügbare Fläche im Umland nicht aus, um genügend Nahrung zu produzieren. Die Ränder der Städte sind zu dicht besiedelt, die Böden nicht fruchtbar genug, das verfügbare Ackerland durch Gebirge oder Meer begrenzt. Das Problem wird sich absehbar verschärfen, wenn zukünftig in den untersuchten Regionen mehr Menschen leben.

 

Der eigene Beitrag

 

Dennoch ist Zasada optimistisch: »Eine Selbstversorgung ist schwierig, aber zumindest in Teilen machbar.« Das Konsumverhalten ist dabei eine wichtige Stellschraube. 17 Prozent aller Nahrungsmittel gehen im Laufe der Produktions- und Handelskette verloren, weitere 14 Prozent in den Haushalten. Der Flächenbedarf ließe sich drastisch reduzieren, wenn weniger Nahrungsmittel im Müll landeten. 

Eine Ursache für die Verschwendung sieht Zasada in der großen Lücke, die zwischen Konsum und Produktion klafft. Viele Menschen wüssten nicht mehr, woher die Kartoffel und das Steak auf ihrem Teller kommen, wie sie angebaut und verarbeitet werden. Die berühmten lila Kühe, die Kinder malen, wenn sie noch nie auf einem richtigen Bauernhof waren, sind ein Symptom dieser Entfremdung. Die Folge: »Es fällt leichter Lebensmittel wegzuwerfen, wenn man keinen Bezug mehr dazu hat«, erklärt Zasada.​

 

Der erste Schritt

 

In den Stadtverwaltungen und Kommunen spielen Ernährung und Lebensmittelerzeugung derzeit kaum eine Rolle. Doch allmählich werden diese Fragen wieder stärker in den Vordergrund rücken, ist der Forscher überzeugt. Die ersten Anzeichen für ein Umdenken liefern die Stadtbevölkerungen selbst: Auf Brachflächen entstehen mobile Gärten in Kisten, Dachflächen werden zu Farmen und Balkone zu Naschoasen. »Urban Gardening ist ein Trend, der viele Aspekte aufgreift«, sagt Zasada. Es gehe nicht nur um gesunde Nahrungsmittel, die vor Ort in Bioqualität angebaut werden, sondern auch um soziale Teilhabe in der Stadt, um gärtnerisches Wissen, um Bildung und Integration. Dennoch sind Gärten auf Dachterrassen oder in Hinterhöfen keine hochproduktiven Agrarbetriebe. Den Hunger der Großstadt werden sie nicht stillen können. Hier setzen Vereine und Initiativen, wie der Ernährungsrat Berlin, an. Sie bringen das Thema Lebensmittelerzeugung aktiv und ganzheitlich in den politischen Alltag der Großstadt ein. 

Nicht zuletzt diesen Initiativen, aber auch Verbänden, Behörden und der Politik sind Dank der Arbeit von Zasada und seinen Forschungspartnern nun belastbare wissenschaftliche Daten in die Hand gegeben. Der Wissenschaftler plädiert dabei für einen pragmatischen Umgang mit seinen Forschungsergebnissen. Sie seien kein Plädoyer für eine komplette Selbstversorgung von Großstädten, die nicht immer effizient ist: »Wir wollen vielmehr das Bewusstsein darüber schärfen, wie wir diese Prozesse mit unserem eigenen tagtäglichen Konsumverhalten nachhaltig steuern können.« Es lohnt sich also durchaus zu prüfen, welche Teile der Landwirtschaft regionalisiert werden können. Das Potenzial dazu – so zeigen die Daten – ist in Berlin jedenfalls vorhanden.

 

Text: Heike Kampe​

Infomaterial und weiterführende Informationen:

 

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