16.05.2019
Pressemitteilung
Ist eine Landwirtschaft ohne chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel möglich? Um diese Frage zu beantworten, gehen deutsche und französische Forscherinnen und Forscher jetzt gemeinsam voran: Das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V. hat mit dem französischen Nationalen Institut für Agrarwissenschaften (INRA) sowie dem Julius Kühn-Institut (JKI) eine in dieser Form einzigartige europaweite Forschungsinitiative ins Leben gerufen. Das erklärte Ziel: den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln bis 2050 auf ein Minimum zu reduzieren. Am 17. Mai 2019 treffen sich Vertreterinnen und Vertreter der europäischen Spitzenforschung nun in Berlin, um ein Strategiepapier und eine Roadmap zu entwickeln, Forschungslücken zu identifizieren und sukzessive zu schließen.
Pflanzenschutzmittel auf der Grundlage chemisch-synthetischer Wirkstoffe werden heute weltweit intensiv in der Landwirtschaft eingesetzt, um Pflanzen und Ernte gegen Schädlinge und Krankheitserreger zu schützen. Das Verwenden dieser Pestizide hat aber auch Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima: „Eine zu hohe Dosierung kann zur Verunreinigung des Grundwassers führen und die Bodenfruchtbarkeit verschlechtern. Zudem weisen immer mehr wissenschaftliche Studien darauf hin, dass der Pestizideinsatz die Biodiversität und bei nicht sachgemäßer Verwendung die menschliche Gesundheit negativ beeinträchtigen kann. Zudem ist über die Kombinationswirkungen von Pestiziden wenig bekannt“, sagt
Prof. Dr. Frank Ewert, Wissenschaftlicher Direktor des ZALF und Mitinitiator der Initiative. Gleichzeitig schützen Pestizide die Pflanzen vor Unkräutern, Krankheiten und Schädlingen. Sie alternativlos von heute auf morgen zu verbieten, würde einen großen Teil der Landwirtschaft vor große Probleme stellen. „Noch wissen wir zu wenig über die komplexen Wechselwirkungen und Zusammenhänge im System Landschaft-Landwirtschaft, um als Wissenschaft umfassende Empfehlungen an Politik und Gesellschaft auf dem Weg zu einer pestizidarmen Landwirtschaft aussprechen zu können. Trotz guter und wertvoller Erkenntnisse einzelner Untersuchungen fehlt das Verständnis des Gesamtsystems und der komplexen ökologischen und sozio-ökonomischen Zusammenhänge. Der Forschungsbedarf ist noch sehr groß.“
Sicher sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von ZALF, JKI sowie INRA aber in einem Punkt: Um den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln drastisch zu reduzieren, braucht es grundlegende Veränderungen in der Landwirtschaft. Daher begannen sie bereits im Jahr 2018 unter dem Titel „Towards chemical pesticide-free agriculture“ gemeinsam mit anderen Europäischen Einrichtungen mit der Erarbeitung einer Forschungsstrategie. Im Oktober 2018 stellten sie einen ersten Entwurf im Rahmen eines internationalen Workshops in Paris vor. Dies war der Startschuss für ein europäisches Netzwerk, das sich das Ziel gesetzt hat, auf der Grundlage von exzellenter Forschung den Weg in eine pestizidärmere Landwirtschaft vorzubereiten.
Ziel ist eine nachhaltige und wettbewerbsfähige pestizidarme Landwirtschaft
Der gemeinsame Strategieentwurf wurde in der Zwischenzeit weiterentwickelt und versucht nun erstmals einen einheitlichen und abgestimmten Rahmen für die weitere Forschung zu setzen, enthält Denkanstöße für Politik und Gesellschaft und bildet den Startpunkt für ein weiterwachsendes europäisches Forschungsnetzwerk. Es richtet den Fokus insbesondere auf die aktuellen Herausforderungen, die in der konventionellen Landwirtschaft überwunden werden müssen, denn Quantität, Qualität und Preis der landwirtschaftlichen Produkte hängen oftmals stark vom Pestizideinsatz ab.
„Wir wollen die agrarökologischen Zusammenhänge in der Landschaft besser nutzen, um krankheitsresistentere Produktionssysteme zu entwickeln“, sagt Prof. Ewert. „Etwa Schädlinge wieder verstärkt mit Nützlingen statt mit Pestiziden bekämpfen.“ Um Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Produktion künftig noch besser zu verbinden, muss ein besseres Systemverständnis erreicht werden: Welche Faktoren beeinflussen die Artenvielfalt? Welche Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Insekten und den im Boden vorkommenden Organismen gibt es und wie können wir natürliche ökologische Mechanismen und Prinzipien effizienter nutzen, um die Pflanzen-gesundheit zu stärken und damit Pflanzenschutzmitteln zu sparen?
Weiteres großes Potential sehen die Forschenden in der Pflanzenzüchtung: „Widerstandsfähige Sorten stellen die umweltfreundlichste Art des Pflanzenschutzes dar. Der Pflanzenzüchtungsforschung bzw. der Pflanzenzüchtung kommt somit eine Schlüsselrolle auf dem Weg zu einer pestizidarmen Landwirtschaft zu. Molekulare Markertechniken sowie die Kenntnis der Genomsequenz vieler unserer Kulturarten werden zukünftig eine beschleunigte Identifikation von Resistenzgenen und deren züchterische Nutzung erlauben. Eine besondere Bedeutung im Rahmen der züchterischen Verbesserung von Resistenzeigenschaften kommt dabei der gezielten Nutzung der in Genbanken gelagerten genetischen Vielfalt zu“, sagt
Prof. Dr. Frank Ordon, Präsident des Julius Kühn-Instituts.
Die Digitalisierung und neue technische Entwicklungen sind für den Umstieg in eine pestizidarme Landwirtschaft weitere hilfreiche Bausteine, die gezielt genutzt werden müssen. Zudem ist es nötig, das Wissen um Alternativen zu chemischen Pestiziden, wie zum Beispiel die Nutzung von Mikroorganismen und Pflanzenextrakten, zu erweitern und die Interaktion von Pflanzen und ihren Schädlingen beziehungsweise Krankheitserregern intensiv zu erforschen. Hier bedarf es insbesondere Langzeituntersuchungen, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Anbau- und Produktionsmethoden müssen auf den Prüfstand gestellt und neu bewertet, Züchtungsfortschritte besser genutzt werden. Welche Forschungsanstrengungen dafür in den kommenden Dekaden nötig sind, skizziert die vorliegende Forschungsstrategie und soll nun in einer Roadmap und einem Strategiepapier weiter konkretisiert werden.
„Wir wollen den Weg zu pestizidärmeren Agrarsystemen von Morgen aktiv mitgestalten“, fasst Prof. Ewert zusammen. „Die europäische Agrarforschung könnte hier weltweit eine Vorreiterrolle einnehmen und gemeinsam mit Politik und der Praxis nicht nur klima- und umweltfreundlichere Anbausysteme, sondern auch neue innovative Produkte, Technologien und Dienstleistungen für eine zukunftsfähige Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts hervorbringen.“
Pressemitteilung im PDF-Format
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Bildunterschrift: Blattlausbefall an einer Ackerbohnenpflanze kann erheblichen Schaden verursachen. Statt mit chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln könnten Schädlinge zukünftig stärker mit Nützlingen bekämpft werden. Zu den natürlichen Feinden der Blattlaus gehören Parasitoide, Schwebfliegen und Marienkäfer. | Quelle: © Ulrich Stachow / ZALF.