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Mit BIG DATA Muster in der Natur entschlüsseln

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​​​​​Seit 20 Jahren sammeln Forscher in einem rund 160 km² großen Un­tersuchungsgebiet in Brandenburg einen gigantischen Datenschatz: Sensoren messen Daten in Boden, Grundwasser und Luft, aber auch Beobachtungen von Tieren und Untersuchungen an Pflanzen sollen dabei helfen, Wechselwirkungen in der Umwelt besser zu verstehen. Bisher fiel die Verknüpfung und richtige Deutung der Daten aufgrund enormer Komplexität und der schieren Menge sehr schwer – Aussa­gen über natürliche Zusammenhänge blieben vage. Ein Exkurs in die theoretische Physik führt ein Forscherteam zunächst zu einer neuen Methodik und dann zu einer Entdeckung: Muster im Datenmeer.

Dass er einem großen Irrtum auf die Schliche kommen würde, hatte Prof. Dr. Gunnar Lischeid, Leiter des Instituts für Landschaftswasserhaushalt am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e.V., zunächst auch nicht vermutet. Er interessiert sich für alle Arten von Wasser: Grundwasser, Bodenwasser, Flüsse, Bäche, Tümpel und Sölle sowie alles, was darin transportiert wird, vor allem Dünger und Nährstoffe. Und so stutzt er, als über Jahre hinweg viele Bäche in der brandenburgischen Uckermark immer sauberer werden. Die allgemeine Vermutung: »Unsere Landwirte düngen weniger.« Ein Erfolg für den Umweltschutz? Gemeinsam mit seinem Team geht Prof. Lischeid auf Spurensuche.

 

Big Data in der Uckermark

Die Daten, auf die Prof. Lischeid zurückgreifen kann, stammen von einem Untersuchungsgebiet des ZALF, das 90 Kilometer nördlich von Berlin im Einzugsgebiet des Flusses Quillow in der Uckermark liegt. Dort wird seit Ende der 1990er Jahre all das gemessen, was für die Umwelt wichtig ist: Wetter und Bodenstrukturen, Zecken- und Mückenbefall, Unkraut und Vögel, Grundwasserstände und Bodenfeuchte. »Ornithologen, Wasserexperten, Biogeochemiker, Landschaftsforscher und andere Wissenschaftler erfassen hier Daten und untersuchen Prozesse aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln«, sagt Prof. Lischeid. Aufgrund der Größe des Forschungsareals können Ergebnisse auch auf andere Regionen in Deutschland übertragen werden. So entstehen wichtige Aussagen über Wechselwirkungen in der Landschaft, die für den Umwelt- und Naturschutz zentral sind. »Aber: oft schauen wir Wissenschaftler nur mit unserer eigenen Fachbrille auf die Daten. Um Zusammenhänge und Wechselwirkungen in der Natur aufzuzeigen, müssen wir mit sehr großen Datenmengen arbeiten und diese so miteinander verknüpfen, dass neue belastbare Informationen entstehen.« Was bisher fehlte, war eine Möglichkeit, nicht nur in einem kleinen Datensatz, sondern in einer sehr großen Menge an Daten bestimmte, wiederkehrende Muster zu erkennen. Diese Muster könnten die Grundlage für einen essentiellen Zusammenhang in der Natur abbilden, der für uns bisher unbekannt ist oder für den Belege fehlen.

»Natürlich kennen wir viele Zusammenhänge in der Natur. Es gibt aber Wechselwirkungen, die wir bisher nicht erklären können«, so Lischeid. So wachsen Pflanzen, die eigentlich trockene Böden benötigen, plötzlich auch im Moor. Andere Pflanzen verdunsten jedes Jahr fast exakt die gleiche Wassermenge, obwohl die Regenmengen und die Durchschnittstemperaturen sich von Jahr zu Jahr deutlich unterscheiden. Entwicklungen sind das Resultat von Ursache, Wirkung und Anpassung. Wenn dieses Prinzip gültig ist, muss es für vergleichbare Prozesse Muster geben, die sich wiederholen. Bestimmte Zusammenhänge springen einem sofort ins Auge. Für andere benötigt man sehr große Datensätze mit möglichst vielen verschiedenen Messgrößen. Scharfes Hinsehen allein reicht dann allerdings längst nicht mehr, um alle Vernetzungen und Wechselwirkungen nicht nur zu erkennen, sondern auch zu belegen. »Ich habe daher nach einem Ansatz gesucht, um in der Datenflut den Gestaltungskräften der Natur auf die Spur zu kommen.« Ein Zufall kommt ihm bei seiner Spurensuche zu Hilfe.

 

​Neuland in der Umweltforschung betreten

»Ein früherer Kollege ist theoretischer Physiker. Er hat mir einen Einblick gegeben in moderne Verfahren der Analyse großer Datensätze, die in der Physik schon lange verwendet werden.« Big Data ist das Schlagwort: Unter dem Sammelbegriff sind Daten zusammengefasst, die zu komplex, zu groß oder auch zu schnelllebig sind, um sie mit herkömmlichen Computersystemen und Methoden zu verarbeiten. Hierzu bedarf es neuer Methoden und Technologien. In der Wirtschaft werden beispielsweise hunderte Millionen Internetnutzerdaten zeitgleich erfasst, verknüpft und in Sekundenschnelle zu persönlichen Profilen verdichtet. Ein komplexer Algorithmus berechnet, welche Werbung uns bei dem Besuch von Webseiten angezeigt wird, bspw. wohin wir unseren nächsten Urlaub planen könnten. Tausende von Messdaten speisen mathematische Modelle für die alltägliche Wettervorhersage, helfen den Biologen, den Aufbau einer Zelle zu verstehen und werden in der Physik für die Darstellung der Atome genutzt. Fasziniert von diesen Ansätzen beginnt das Team um Prof. Lischeid, sich mit diesen Methoden zu beschäftigen, und betritt damit Neuland in der Umweltforschung. Ein erster Versuchsfall liegt bereits auf seinem Tisch: die veränderte Grundwasserqualität in der Uckermark.

Prof. Lischeid’s Suche nach Mustern beginnt. Er und sein Team sammeln 2449 Wasserproben aus den Bächen, kleinen natürlichen Teichen, sogenannten Söllen, und aus dem Grundwasser des Quillow-Gebiets. Insgesamt 96 verschiedene Gewässer werden auf zwölf Messgrößen hin untersucht: dem pH-Wert, der elektrischen Leitfähigkeit, dem Sulfat-, Stickstoff-, Chlor-, Phosphat- Natrium-, Kalium-, Magnesium-, Kalzium-, Ammoniakgehalt und organischen Kohlenstoffkonzentration: ein ganzer Ozean voller Zahlen. »Obwohl Umweltprozesse sehr komplex sind, werden sie häufig nur von einer kleinen Anzahl von Schlüsselprozessen dominiert. In diesem Falle habe ich herausgefunden, dass in diesen 96 Messstellen im Wesentlichen die gleichen fünf Prozesse ablaufen, allerdings in unterschiedlich starker Ausprägung und mit unterschiedlichem zeitlichen Verlauf.« Sein genialer Kompagnon: der Computer. Doch der Rechner hat ein Handicap – er ist im Erkennen von Mustern keine große Hilfe. Diese faszinierende Leistung unseres Gehirns bleibt dem Computer bisher weitestgehend verschlossen. Prof. Lischeid arbeitet sich daher in »Big Data«-Ansätze zur Datenanalyse ein und stößt auf die »SOM-SM-Methode«. Diese kombiniert die Rechenleistung eines Computers mit der menschlichen Fähigkeit zur Mustererkennung. Jede der 2449 Wasserproben wird durch einen Punkt in einem Diagram dargestellt. Wasserproben, die bei allen 12 Messgrößen sehr ähnliche Werte haben, liegen sehr dicht nebeneinander. Solche, die sich stark unterscheiden, sind weit voneinander entfernt angeordnet. Eine Punktewolke mit unterschiedlicher Dichte entsteht. 

Schon auf den ersten Blick sind Muster erkennbar: Die Lage der Punkte in der Abbildung verrät sehr viel darüber, welche Proben sich ähneln, welche ein typisches Muster aufweisen und welche Gruppen von Messstellen sich unterscheiden lassen. Entscheidend ist dabei, dass diese Muster von allen zwölf Messgrößen bestimmt werden. Durch unterschiedliche Einfärbungen der immer gleichen Abbildung kann man sich dann die Werte einzelner Messgrößen oder einzelner Messstellen anzeigen lassen und kann zeitliche Veränderungen einzelner Messgrößen erkennen. Für das menschliche Gehirn ist es dann sehr hilfreich, dass die Lage der Punkte in der Abbildung immer gleich bleibt, nur die Farbe der Punkte ändert sich. »So können auch sehr große Datensätze sehr effizient und computergestützt untersucht werden«, so Lischeid.

 

​​​Erstaunliche Beweise

Mit diesen »Big Data«-Ansätzen musste die vermeintliche Erfolgsgeschichte der sauberen Flüsse und Bäche schließlich revidiert werden: Die Forscher wiesen zwar eine schrittweise Veränderung der Wasserqualität in den Bächen, nicht aber im Grundwasser nach und wurden stutzig. Ein zweites Muster in den Punktwolken brachte sie dann auf die Spur: Die Grundwasserstände waren im Vergleich zum Vorjahr gefallen. Die Forscher konnten aus der Differenz auf die Niederschlagsmenge in der Region schließen und schließlich beide Datensätze vergleichen: Die Ursache für die verbesserte Wasserqualität war kein reduzierter Einsatz von Dünger, sondern das Wetter. In den letzten warmen und trockenen Jahren gelangte nur wenig stark belastetes Wasser von den Ackerflächen bis in die Bäche. Sie wurden in dieser Zeit mit wenig belastetem Grundwasser aus größerer Tiefe gespeist. »Es hatte also gar nichts damit zu tun, dass die Landwirte anders wirtschaften, sondern einfach mit den unterschiedlichen Wasserständen. Mit unseren Verfahren konnten wir das schließlich wissenschaftlich fundiert nachweisen.«​

Doch nicht nur diesen Irrtum konnte Prof. Lischeid mithilfe der neuen Modelle aufklären. »In verschiedenen Söllen in Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern wurden Pflanzenschutzmittel gefunden, die die Landwirte nach eigenen Angaben im betrachteten Einzugsgebiet nie verwendet hatten. Sofort kam der Verdacht: Schummeln die Landwirte? »Unsere Analysen konnten entlasten: Die Sölle stehen im Kontakt mit dem Grundwasser, Pflanzenschutzmittel werden oft kilometerweit unter der Erde transportiert.« Solche Fehlurteile im Umweltschutz können verheerende Folgen haben – für Landwirte, für die Natur, für uns Menschen. »Mithilfe von ›Big Data‹-Ansätzen können wir die Auswirkungen von Eingriffen in die Umwelt, z. B. durch den Naturschutz, untersuchen und viel differenzierter die Ursachen von Veränderungen erforschen und erkennen. Wir Menschen sind heute technisch in der Lage, Stoffflüsse und Lebensräume von Pflanzen und Tieren in einem Maß zu verändern, das die Grundlagen unseres Lebens gefährdet. Die Umweltforschung kann mithilfe dieser neuen An​sätze Zusammenhänge aufdecken und auf Entwicklungen hinweisen, bevor sie unumkehrbar sind.«

 

Prof. Dr. Gunnar Lischeid
erforscht Wasser − in all seinen Facetten und Wechselwirkungen. Er ist Leiter des Instituts für Landschaftswasserhaushalt am ZALF und hält eine gleichnamige Professur an der Uni­versität Potsdam. Nach seinem Studium der Landwirtschaft und Geologie an den Univer­sitäten Bonn und Göttingen wurde er im Fach Forstwissenschaften promoviert und hat sich im Fachbereich Hydrologie habilitiert.​

 

Infomaterial und weiterführende Informationen:

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